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Die SOL ist eine smarte Fabrik und die jüngste Ergänzung im Produktionsnetzwerk von Boehringer Ingelheim
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Klassische Computer werden immer leistungsfähiger, doch es gibt Aufgabenstellungen, die zu komplex sind. Die exakte Simulation von Molekülen zum Beispiel. Quantencomputer versprechen ein Vielfaches an Rechenleistung. Deswegen startete Boehringer Ingelheim Anfang 2021 eine Kooperation mit Google Quantum AI. Elica Kyoseva, Quantum Computing Scientist bei Boehringer Ingelheim, und Ryan Babbush, Head of Quantum Algorithms bei Google Quantum AI, sprechen über das Potenzial der Quantencomputer und die Zukunft der pharmazeutischen Forschung.
Elica Kyoseva: Quantencomputing ist die nächste technische Revolution. Es wird uns helfen, viele der Probleme zu lösen, bei denen selbst die leistungsstärksten klassischen Supercomputer passen müssen. Das betrifft zum Beispiel die Entschlüsselung von aktuellen Kryptosystemen, Prognosen der Finanzmarktentwicklung und – für Boehringer Ingelheim am wichtigsten – die Lösung von chemischen Problemen wie zum Beispiel molekularer Bindungen. So können neue Pharmazeutika besser entdeckt werden und es wird ein Beitrag zum weltweiten medizinischen Fortschritt geleistet.
Ryan Babbush: Konventionelle Computer sind Maschinen, die mit einer gigantischen Menge an binären Schaltern Informationen verarbeiten. Diese Schalter können entweder auf null oder eins gestellt werden. Für die zunehmende Komplexität vieler Problemstellungen, die wir lösen wollen, bauen wir immer leistungsfähigere konventionelle Rechner. Doch die stoßen an bestimmten Punkten an ihre Grenze.
Elica Kyoseva: Bei chemischen Simulationen wie der Berechnung der Molekulardynamik sind die Möglichkeiten klassischer Computer schnell erschöpft – und hier ist der Grund: Nehmen wir an, es sei uns gelungen, als Grundlage ein exaktes Molekül mit all seinen Elektronen zu modellieren. Wenn wir diesem Molekül nun ein weiteres Atom hinzufügen, werden dessen Elektronen mit allen anderen Elektronen und Kernen des Systems interagieren. Wir möchten sämtliche dieser zusätzlichen Interaktionen verfolgen und müssten dazu die Ressourcen unseres Computers verdoppeln. Das gilt für jedes Elektron, welches wir dem molekularen System hinzufügen. Das heißt, dass die Komplexität dieser Berechnungen sowohl auf den Speicher als auch auf die Rechenzeit bezogen exponentiell zunimmt. Hier wird offensichtlich, dass konventionelle Computer in diesem Szenario schnell an ihre Grenzen kommen.
Elica Kyoseva: Statt mit binären Schaltern, den Bits, arbeiten sie mit Qubits, und die besitzen quantenmechanische Fähigkeiten. Die erste nennt sich Superposition: Ein Qubit ist in der Lage, zur gleichen Zeit zwei verschiedene Zustände einzunehmen. Die zweite ist das Entanglement. Es beschreibt die quantenmechanische Verbindung zwischen Partikeln zu einem untrennbaren – klassischerweise nicht darstellbaren – System. Aber warum ist das wichtig? Weil Moleküle Quantensysteme sind! Wenn wir sie also exakt beschreiben wollen, müssen wir über diese Quanteneigenschaften nachdenken, die auf einem klassischen Computer exponentielle Ressourcen erfordern. Im Gegensatz dazu verfügen Quantencomputer von Natur aus über diese Eigenschaften und sind daher das beste Mittel, um Quantensysteme zu simulieren – wie der weltberühmte Physiker Richard Feynman bekanntermaßen bereits in den 1980er-Jahren feststellte.
Ryan Babbush: Um zu verdeutlichen, welche enorme Rechenleistung dadurch entsteht: Wenn Sie drei Bits miteinander kombinieren, ergeben sich daraus acht verschiedene Möglichkeiten: 000, 001, 010 und so weiter. Dabei können die drei Bits zusammen immer nur einen dieser acht Zustände zu einer Zeit haben. Drei Qubits können quantenmechanisch alle denkbaren Kombinationen dieser Zustände annehmen, und das gleichzeitig (Superposition).
Ryan Babbush: Die Quantenmechanik scheint der physikalischen Logik, der wir im Alltag begegnen, zu widersprechen. Als Forschende verstehen wir ihre Prozesse aber sehr gut. Die Theorie der Quantenphysik ist fast 100 Jahre alt. Nun geht es darum, dieses Wissen für das Computing nutzbar zu machen.
Ryan Babbush: Die digitale Forschung geht generell davon aus, dass alle Prinzipien der Naturwissenschaften auch im Bereich der Computer anwendbar sind. In den 1980er- Jahren begannen die Überlegungen, Computer auf Grundlage der Gesetze der Quantenmechanik zu entwickeln. In den 1990er-Jahren wurden erste Quantenbits (physische Qubits) gebaut, doch erst seit etwa fünf Jahren gibt es eine Hardware, die größere Mengen an Qubits präzise kontrollieren kann. Das Problem ist, dass die Interaktionen zwischen dem Quantencomputer und seiner Umgebung, wie beispielsweise Streulichtphotonen oder Erschütterungen sowie Schwierigkeiten bei der Steuerung der Qubits selbst, zu einem Rauschen führen, welches das Ergebnis der Quantenberechnung verfälschen kann. Es ist unklar, ob es uns gelingt, dies ausreichend in den Griff zu bekommen und sinnvolle Berechnungen durchzuführen. Die Alternative ist, eine Fehlerkorrektur vorzunehmen, um so ein perfektes logisches Qubit zu entwickeln. Das wäre der Königsweg hin zu einem fehlertoleranten Quantencomputer. Ich bin zuversichtlich, dass wir in etwa zehn Jahren einen nützlichen fehlertoleranten Quantencomputer bauen werden. Aber die Herausforderung ist groß – in meinen Augen vergleichbar mit der Idee in den 1960er- Jahren, einen Menschen zum Mond zu fliegen.
Elica Kyoseva: Die Komplexität der Moleküle ist so hoch, dass klassische Computer die Interaktionen ihrer Teilchen, wie z. B. Elektronen, nicht exakt modellieren können. Daher arbeiten wir bislang mit zahlreichen Näherungswerten, um die molekularen Eigenschaften zu berechnen, die wir für die Forschung und Entwicklung benötigen. Das bedeutet, dass die berechneten Eigenschaften Näherungswerte sind und ist einer der Gründe, weshalb wir weitere Untersuchungen im Versuchslabor und Patientenstudien benötigen, um die Wirksamkeit von Wirkstoffkandidaten zu verifizieren. Für die Pharmaunternehmen weltweit bedeutet das einen erheblichen Aufwand an Zeit und Ressourcen. Quantencomputer könnten bei der Entwicklung besserer Medikamente helfen, indem sie auf effiziente Weise eine höhere Genauigkeit liefern.
Elica Kyoseva: Es gibt ohne Zweifel noch viel zu tun. Aber ich bin zuversichtlich, denn wir machen in allen drei zentralen Bereichen Fortschritte: in der Software, der Hardware und bei den konkreten Anwendungsfällen. Dies ist einer der Gründe für unsere Partnerschaft mit Google Quantum AI.
Ryan Babbush: Für uns stellt sich die Frage, ab wann Quantencomputer in der Lage sein werden, für ein Unternehmen wie Boehringer Ingelheim molekulare Systeme zu modellieren. Beim Blick in die Zukunft müssen wir noch einmal zwischen den beiden Ansätzen zum Umgang mit Fehlberechnungen unterscheiden: Gelingt es, das störende Grundrauschen ausreichend zu unterdrücken, dann sehe ich uns in drei bis fünf Jahren so weit. Zeigt sich, dass nur der Königsweg über die fehlertoleranten Quantencomputer zum Ziel führt, könnte es noch bis zu zehn Jahre dauern. Ich bin zuversichtlich, dass der Einzug des fehlertoleranten Quantencomputing vielleicht schon früher eine wirklich neue Ära einläuten wird.
Das Team des Quantum Computing Labs (Von links nach rechts): Dr. Nikolaj Moll, Dr. Michael Streif, Dr. Raffaele Santagati,
Clemens Utschig-Utschig, Dr. Elica Kyoseva, Dr. Miguel Teodoro, Dr. Christofer Tautermann, Dr. Matthias Degroote
Das Quantum Computing Lab von Boehringer Ingelheim beschäftigt sich mit der Erforschung und Umsetzung innovativer Anwendungsmöglichkeiten für Quantencomputer im Rahmen der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung. Dazu hat Boehringer Ingelheim als erstes pharmazeutische Unternehmen eine Partnerschaft mit Google Quantum AI abgeschlossen. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Entwicklung von Molekulardynamik-Simulationen, die durch Quantencomputer deutlich genauer dargestellt werden könnten als durch klassische Computer. Dadurch könnte potenziell der Entwurf von Wirkstoffen (Drug Design) optimiert und effizienter gestaltet werden.